Prolog

Der Günnekamp, unendliche Weite. Dieses sind die Abenteuer des ostwestfälischen Vollgas-Astronauten Alfred, der sich mehr schlecht als recht mit dem Kapern von Handelsschiffen über Wasser hält. Bis er eines Tages das Schiff einer Prinzessin überfallt in der Absicht, schnelles Kapital herausschlagen zu können. Eine fatale Fehlentscheidung, denn die Aura der Prinzessin verfolgt ihn sogar bis in seine Träume, einen Bereich der Nachtruhe, in dem die Naturgesetze keine Gültigkeit mehr besitzen. QUIETSCH. WOOMS. 

Ein Montag im Jahr 2007 – 08:17 Uhr 

Es regnet. 

Ich sitze auf meinem Lieblingsplatz und schaue aus dem mittleren Fenster des kleinen Speisesaals hier im betreuten Wohnen. Es gibt keine feste Sitzordnung, doch hat jeder hier seinen angestammten Platz. Die Betreuer weisen regelmäßig darauf hin sich auch mal einen anderen Platz zu suchen um eine andere Perspektive zu erlangen. Psychogeschwätz entgegen der darwinistischen Hackordnung des „Fittest will survive“. 

Friedrich-Wilhelm, seines Körperumfangs wegen kurz Free Willy genannt, welches er allerdings nicht wirklich versteht, da er einerseits den Film nicht kennt und andererseits mit der Aussage zufrieden ist, dass es sich angeblich um eine veranglizistische Kurzform seines doch allzu langen, aber typisch ostwestfälischen Namens ist, steht vor den Resten des Frühstücksbuffets aus Wurst- und Käseplatten. Das ist also das Leben denke ich. Ich denke an den Dorfvorsteher Brömmelmann, der gestern Nachmittag unsere Einrichtung besuchte. Er referierte voll kindlicher Freude, wie gut sich das betreute Wohnen am Günnekamp doch entwickelt hat. Seine Jugenderinnerung an die Zeit als es hier noch alles Ackerland war, soweit das Auge reichte, ließen mir Wasser in meine Augen schießen. 

Es gibt viele Monologe in Deutschland. 

Ich schaue Friedrich-Wilhelm immer noch an. Dort wo er nun minutenlang schon steht und seine Unfähigkeit, spontane Entscheidungen zu treffen erneut unter Beweis stellt. Dieses mal ist es die lebensmittelallergischwirkendorientierte Entscheidung, ob er denn nun den lactosereichen Käse oder die pikante Salami mit hohen Histamingehalt auf seinen Teller laden soll. Dort wo er steht war laut Aussage von Herrn Brömmelmann früher Ackerland, mit Weizen der vielleicht unter Pilzbefall litt. Oder Unkraut. Friedrich-Wilhelm sieht den Käse an und atmet. Ich hole nochmal Luft bevor ich ihn quer durch den Speisesaal zurufe: „Free Willy, ein toller Ausblick was?! Ich glaube ich habe das nicht ganz verstanden.“ Friedrich-Wilhelm lenkt seine Aufmerksamkeit nun kurz auf mich. Als sein Kopf in meine Richtung zeigt, fahre ich fort: „Weißt du ich wohne hier wirklich gerne.“ und drehe mich nun Richtung Fenster um das Gewicht auf den Ausblick in die Landschaft zu bringen. „Ah heute hat der viel zu hohe Zuckergehalt des Nutellabrots einen Herren Philosophen aus dir gemacht.“ Typische Antwort von Friedrich-Wilhelm wenn man ihn bei der Nahrungssuche stört. „Weißt du…“ fahre ich unbeeinflusst seines bissigen Untertons fort, „… ich glaube wir sollten mal wieder raus hier für ein, zwei Tage. Einfach so wie schon letzten Samstag zum Frauenfußballtunier.“ Nun hatte ich seine Aufmerksamkeit. Ich glaube zu erkennen, dass er immer noch wütend auf mich ist, weil ich den besagten Samstag viel zu spät kam und er den halben Nachmittag mit Gerhard alleine Pils und Wacholder schlorken musste. 

Nun hören wir wieder auf zu reden. 

Ich spreche wieder wie üblich mit mir selbst und schaue ihn an und bemerke diesen Ausdruck in seinem Gesicht, dass er von der letzten Illusion der Menschheit beraubt worden ist, die aussagt, dass auf mich, dem Ostwestfalen Alfred als Mann Verlass ist, weil Männerfreundschaften stärker als alles andere sind. Doch weit gefehlt er spürte es bereits an dem Tag, dass es an einer Frau liegen muss, weshalb ich so spät nach Jürmke kam und auch recht früh wieder verschwand. „Free Willy“ sage ich nun wieder laut, trinke den letzten Schluck des bereits kalten Kaffee aus meiner Tasse und stehe auf „ich gehe schon mal vor, lass uns draußen treffen.“ „Ich dachte wir wären uns einig, dass du wartest.“ entgegnete er mir mit einem Tonfall und Gesichtsausdruck, als ob er heute Nacht mal wieder vor Hunger nicht schlafen konnte. 

Ich gehe an dem halbvollen Geschirrabräumwagen vorbei zur Tür an der das Schild mit der Aufschrift „Kein Geschirr aus dem Speisesaal mitnehmen. Die Heimleitung“ hängt. „Das ist meine Tasse! Das ist meine Tasse! Das ist meine Tasse!“ sage ich mir leise als Formel auf um mein Über-ich unter Kontrolle zu bringen und schlendere so entspannt wie ein Vollamateur-Bankräuber auf einer spontanen, ungeplanten Flucht durch die Tür in den Gang zum Foyer.

Es gibt viele Verbotsschilder im betreuten Wohnen, der Rest ist durch die Hausordnung geregelt, die am schwarzen Brett im Foyer aushängt. 

Einen Teil lerne ich nun wieder kennen. 

Mein leicht gesengter Blick wandert schuldbewusst an die Stelle, wo sie hängt kaum, dass ich das Schließgeräusch der Tür zum Speisesaal hinter mir vernehme. „Das ist meine Tasse! Das ist meine Tasse! Das ist meine Tasse!“ sage ich nun schon wieder leise auf. Es hilft nichts, Schweiß bildet sich in der Innenfläche der Hand die, die Tasse fest umklammert. Scheiß Über-Ich. Scheiß Freud, der mir das Ganze mal wieder durch die psychosomatogene Hyperhidrose bewusst macht, dass es dieses Scheiß Über-Ich wirklich gibt. 

Freuds Bild vor meinem Auge verschwindet und verwandelt sich in die Erscheinung von Pfleger Konrad, obwohl der eher wie Wladimir Klitschko aussieht. „Herr Schmadding!“ sagt auf einmal die Stimme von Klitschko mit leicht ukrainischen Akzent.

Höre ich nun schon Stimmen die andere nicht hören? Ich versuche nun eine andere Methode um mein Über-Ich unter Kontrolle zu bekommen. Ukraine – Hauptstadt Kiew – 603.000 qm Fläche – 46 Millionen Einwohner. Das klappt immer. Nur jetzt nicht.

Undeutlich nehme ich nun diese Klitscko-Erscheinung sechzig Zentimeter vor mir stehend war. WOW! Ich wusste gar nicht, dass der tägliche Verzehr eines Nutellabrots bestehende Psychosen verschlimmert. „Herr Schmadding!“ ertönte es wieder und mein Blick fiel nun auf das Gesicht der Klitschko-Pfleger-Konrad-Erscheinung direkt vor mir. Sie sieht mich sehr streng an und zeigt mit ihrem Zeigefinger auf den Becher in meiner Hand.

Vielleicht ist diese Erscheinung ein Bluff der Frühstücksbrot-Anti-Ferreroisten gegen die Liga der ehrenhaften Nutellabrotesser, um wertvollere Nahrung am Frühstücksbuffet zu etablieren. Mein Blick folgt dem Fingerzeig und ich schnaufe. Nächster Versuch. „Das ist meine Tasse! Das ist meine Tasse! Das ist …“

Nun war es eindeutig Pfleger Konrad’s Stimme die meine Formelaufsagung unterbrach: „Erde an Schmadding“ den leicht ironischen Unterton kann der sich echt sparen, ich wusste bereits, dass die Klitschko-Wasauchimmer-Erscheinung Pfleger Konrad und dieser real ist. „Schmadding wie oft müssen wir sie denn noch darauf hinweisen, aus Gründen der Hygiene, kein eigenes Geschirr mit in den Speisesaal zu nehmen.“ Pfleger Konrad bewegt bedeutungsschwanger wie Mr. Spock seine linke Augenbraue auf; ich stelle mir vor das sie in zwei Sekunden in der normalen Position zurückkehrt und die Sternenflotte sich wieder um ihren Konflikt mit den Ferenghi kümmert.

Doch sie bleibt in dieser Auf-Position stehen wie der Anschalter der Alarmanlage an Bord der Brücke vom Raumschiff Enterprise. „Ich dachte wir wären uns einig.“ Der Tag ist für mich gerade mal zwei Stunden alt und ich höre diesen Satz bereits zum zweiten Mal „Ja, ja“ murre ich leise und noch leiser „Du Sternenflotten-Borg du, assimiliere mich doch“ setze jetzt meinen Gang an der Rezeption, die wie ich aus den Augenwinkel erkennen kann nicht besetzt ist Richtung Ausgang fort. „Ja, ja heißt leck‘ mich am Arsch; und das wollen wir ja wohl beide nicht Schmadding, oder?!“

Ich denke, dass es mit der Hausordnung nicht vereinbar ist von geborgten Pflegern der Sternenflotte am Arsch geleckt zu werden, zumal es zumindest im Speisesaal aus hygienischen Gründen nicht gestattet ist. Diesen Gedanken muss ich hier lassen bevor ich durch die Automatiktür ins Freie trete über der, das Schild hängt mit der Aufschrift „AUSGANG“ In Gedanken schreibe ich mit fetten Edding „Die Heimleitung“ darunter und sage leise „Das macht man nicht! Das macht man nicht! Das macht man nicht!“ als Formel auf um mein Es unter Kontrolle zu bringen und schlendere so entspannt wie der Vollamateur-Bankraub-Fluchtwagenfahrer, bei dessen Fahrzeug der TÜV abgelaufen ist und deshalb von der Polizei angehalten wird durch die Tür.

Es gibt viele einzigartige Geräusche außerhalb des betreuten Wohnens, die einem da um die Ohren schwirren, die maßgeblich zur notwendigen Entspannung beitragen. 

Die Anwesenheit hier vor der Tür ist dafür verantwortlich, nun einerseits brutal offen zu erklären, dass ich sie höre. 

BÜPP BÜPP – BÜPP BÜPP. Mich weckt das SMS-Signal meines Handys aus meinem Selbstmanipulationsversuch „Das macht man nicht! Das macht man nicht! Das macht man nicht!“ um mein Es zu kontrollieren.

Meine freie Hand begibt sich zu der Stelle an der mein seit acht Jahren zuverlässig funktionierendes NOKIA 6210 verborgen ist. Es hat eine total gute Akkuleistung und wer braucht schon so ein Fotomachhandy, wenn man eh keine Freunde hat, denen man Bilder zu sendet auf denen ich mich gerade selbst beim Wasauchimmer fotografiere um zu zeigen wie toll doch mein Leben ist.

So toll das ich die Momente fünfmal lösche, weil ein Detail nicht gestimmt hatte. Vielleicht zu viel Untersicht in der Aufnahme, welche mich so dick aussehen lässt. Oder ich habe gerade die Augen zu und dass geht ja nun gar nicht, weil dann sehe ich echt aus wie ein HONK. In der Hosentasche rechts wie üblich trage ich es, da habe ich so meine Rituale. Rechts das Handy. Links der kleine, schwarze Geldbeutel und Bockmist habe ich heute wieder rechts den Schlüssel eingesteckt.

Scheiß Rituale. Da ich auch noch in der rechten Hand meine Tasse trage, versuche ich vergeblich mit der Linken erst den Schlüssel zu ziehen, der sich wie so oft weigert heraus zu kommen. Ich muss gestehen, dass der Schlüsselanhänger mit seiner widerhakenähnlichen Stahlkette aber echt böse aussieht. Also ein Scheißbösaussehendes Ritual. 

Das Piepen ist also die schrille Anklage meine Rituale zu ändern. Die Betreuer weisen regelmäßig darauf hin auch mal einen anderen Ablauf seiner Dinge zu tätigen um eine anderes Verhältnis zur Ordnung zu erlangen. 

Endlich habe ich das Handy in der Position, dass ich es einhändig bedienen kann. Meine Augen schauen erwartungsvoll auf das Display. „1 neue Kurzmittelung eingegangen“ Boah wie schlau doch dieser kleine Scheißer ist. Ich habe nicht erwartet, dass da jetzt „1 neuer Therapieplan eingegangen. Die Heimleitung“ steht.

Ich drücke die richtigen Knöpfe und lese „Du Idiot hast schon wieder deine Tastenspeere nicht drin. Habe heute morgen 17mal eine leere SMS von dir bekommen. Gruß Alex“ Das ist hart. Alex weil er als Erster in meiner Kontaktliste gespeichert ist und der hat Eplus, da kostet die SMS € 0,19 mal siebzehn macht zusammen € 3,23. „Toll!“ denke ich. Dieses alles nur um ein wenig Aufmerksamkeit von Alex zu bekommen. Mein Blick wandert schuldbewusst umher, auf der Suche nach dem Schild auf dem steht. „Denken sie an die Tastenspeere.“

Ich sehe den Butchereit wie er einen Regenwurm aus der Erde zupft und die Blonde von der Anmeldung, die gerade Raucherpause macht, damit neckt. Als er mich mit meiner Tasse in der einen und dem Handy sowie dem Schlüssel in der anderen Hand entdeckt wird das Regenwurmtechtelmechtel zur Nebensache. Neues Opfer – wie ein Neustart im Videospiel ohne Rücksetzpunkt. „Na Schmadding heute schon den Kaffee vom Kiosk geholt?“

Der kennt mein Ritual, denn auch er trinkt immer eine Tasse von der Automatenplörre für € 2,00 obwohl der Kaffee im Speisesaal besser schmeckt, dafür aber nicht von der zuckersüßen dunkelhaarigen Aushilfe im Kiosk kredenzt wird auf die der Paul so scharf ist. „Ich dachte wir wären uns einig. Die Süße passt doch gar nicht in dein Beuteschema“ höre ich diesen Satz bereits zum dritten Mal und setze meinen Gang Richtung Kiosk fort. „Das gibt sonst Stress; und das wollen wir ja wohl beide nicht Schmadding, oder?!“

Ich denke nicht, dass es mit der darwinistischen Hackordnung vereinbar ist aus rituellen Gründen mit Paul nun eine Schlägerei anzufangen. In Gedanken schreibe ich ein neuen Paragraphen in die Evolutionstheorie „Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib was dein Nächster auch noch nicht hat“ und sage ihm „Meine Wahl soll ausgerechnet auf diesen Tori Amos Verschnitt, die kurz vorher als besitzerlose Hündin im Tierheim abgegeben wurde, fallen? Nee lass mal Paul, die kannst du schön für dich alleine behalten“ Ein Mittel der Abwertung zur Ablenkung von meinem Interesse an seiner Favoritin, welches Paul offensichtlich beruhigt. Scheiß Gammatierchengehabe. Ich überlege kurz ob ich ihm meinen Arsch hinhalten muss, damit er sich hinter mich stellen kann und auf der Brust trommelnd „HUU-R-AAH!“ schreit. Ich gehe weiter und stehe nun vor der Tür über, der das Schild hängt „KIOSK“. Keine Formel, die ich aufsage als ich durch sie trete.

Woanders ist es eben doch anders als wie im Speisesaal des betreuten Wohnen. Selbst im Kiosk, von dem man immer denkt, es ist wie betreutes Essen und Trinken nur mit einer hübscheren Bedienung. Aber schon die Speisen- und Getränkeausgabe sieht anders aus. Andere Formen, andere Farben und natürlich die berühmten Coca-Cola Angebotstafeln u.a. mit den in Kreide geschriebenen Lettern „Heiße Wiener mit Brot – € 2,00“ anstatt dem auf DIN A4 schwarz-weiß kopierten Speiseplan am schwarzen Brett des betreuten Wohnen am Günnekamp. 

Ich entdecke die Hinweisschilder die mir das geordnete Leben weisen sollen. 

Der eigentlich um diese Uhrzeit betriebsame Kiosk ist von gähnender Leere erobert, was ich nacheinander delikat, geil und praktisch finde während die „Young Amy Winehouse look a like“-Aushilfe namens Jasmijn passender weise „Love Is A Losing Game“ vor sich hin summt, hauptsächlich weil ihr langweilig ist aber auch weil sie es kann, das Summen von Liedern. Sie könnte mit ihrem Aussehen und ihrem Summen die Melange einer gedieterbohlten „DSDS“und Heidi Klum ihrer gebrucedarnellten Drama-Show „Germany’s next Top-Model“ werden. Und nicht nur wenn Paul und ich mit der Macht der Testosterone in der Dreier-Jury sitzen würden. 

„Goede morgen Jasmijn“ in akzentfreien Niederländisch reiße ich sie aus ihrer Lethargie der puren Anwesenheit ihrer selbst. „Goede morgen mijnheer“ kichernder weise mit ein spitzbübischen Lächeln aus ihrem wundervoll anzuschauenden Mund gehaucht. Ich weiß schon wie ich meine Aufmerksamkeit, die ich im Leben wahrlich verdient habe, bekomme. Mein Leben wird immer schneller. Zur Reduzierung des möglichen Überschlagrisikos bei dieser hohen Geschwindigkeit werde ich durch die Anpassung der Taktgeschwindigkeit und der Unterstützung durch dopaminerge Neuronen das Tempo versuchen zu drosseln. Meinen bezugnehmenden Betreuer werde ich bei der nächsten Visite zu dieser Überlegung befragen. 

Als ich das erste Mal vor ungefähr sieben Wochen Jasmijn in diesem impressionistischen Kunden-Verkäuferin-Rollenspiel in der Interakton erlebte, entdeckte ich meine Vorliebe mit ihr angealbert diese einfachen Begrüßungsdialog in ihrer Muttersprache zu führen, ohne skeptischen Moralismus in der Anwendung der fremden Sprache, dieses die beste Unterhaltung war, die ich jemals mit einer Verkäuferin geführt habe ohne die Reise als Flucht zur „Insel der Hoffnung“ beim Einkauf antreten zu müssen.

Meine Gedanken präsentieren mir wie das wahre Leben sein sollte, ich sehe das folgende Szenario: Warenregalreihe mit den Zeitschriften im Kiosk am Günnekamp, morgens halb neun. Ich stehe am Regal und schaue auf die aktuelle Ausgabe des Magazin Stern für € 3,60. Plötzlich erscheint Paul mit solch‘ einem scharfen Playboyfummel mit dem Gesicht von George Clooney und fragt mich mit lasziver Stimme „Wie geht es Dir?“ Ich nehme mit einem kurzen Schluck die Neige des Kaffees aus meiner Tasse. Adrenalinrauschen. Tinnitusgleiche Geräusche im Ohr.

Eine Schönheit mit dem Aufdruck JASMIJN auf der prallgewölbten Brust ihres knappen Oberteil erscheint wie aus dem nichts und fragt mich mit lasziver Stimme: „Sprühsahne oder Schokosoße?“ Ich umgreife die Hübsche und dann eine Kette welche von oben herab fällt und antwortete dem George-Paul Butchereit-Clooney „Du weißt ich komme zurecht!“ Die Schönheit und ich werden vom Herzblatt-Hubschrauber an der Kette hängnd in die Höhe gezogen. Der Kiosk explodiert!!! Später grillen wir zur leichten Unterhaltung zwei Kassetten von „Unser Charly“ (Programmtipp samstags 19.30h im ZDF) in den auflodernden Flammen des Restfeuers der Ruinen. Ich sehe Miss Jay verliebt an und hauche ihr ins Ohr „Beim Einkauf mit dir, die Warentrennstöckchen längs zur Laufbandrichtung an der Kasse im Supermarkt legen? Das wäre sowas von PUNK!“

„Waren die Kollegen von der Spurensicherung schon da?“ eine Stimme ertönt hinter mir und ich erkenne sofort, dass es dem Paul seine ist obwohl er einer sonoren, die Langsamkeit entdeckender, bester Stefan Derrick Manier verstellt. Bockmist. Der Typ ist zäh. Der überlebt sogar das nine/eleven des Günnekamp-Trade-Centers. Ich komme mir vor wie Linda Hamilton während der Szene in „Terminator 1“ als sie von den Überresten des Terminators am Fuß gerpackt wird, nur nicht so hübsch bestückt wie sie. Ich suche verzweifelt nach Schildern, die mir Antriebsstoff zur Formelaufsagung geben sollen.

„Heiße Wiener mit Brot – € 2,00“ Oh je, NEIN Gedanken geht mir aus dem Kopf. Paul zieht mit bloßen Händen einen heißen Wiener aus dem Topf. FUUUUUMP FUUUUUUMP in bester Jedi-Angriff-2-Stellung fordert er mich heraus. Jasmijn wirft mir ebenfalls ein Würstchen zu, welches ich aber prompt fallen lasse, da ich nicht damit gerechnet habe, dass es so heiß ist. Scheißschild. Scheißrealitätsregeln in Phantasien. Warum steht da nicht „Kalte Frikadellen mit Senf und Brot. € 2.00“ Geübt durch hunderte von Schneeballwürfen in diesem gewissen Internet-Forum würde ich ihn jetzt in einem Meer aus toten Schweinefleisch begraben.

Formelaufsagungssammlung rette mich. Mein Blick fällt zunächst auf das am Boden liegende Würstchen dann auf die Margarine von „Du darfst“ im Kühlregal. „Wer ist Paul? Wer ist Paul? Wer ist Paul?“ Mit dieser Erkenntnis kehre ich im minderkalorischen Idealgewicht auf die reale Weltoberfläche zurück. „Huch, der Herr Butchereit, der Satiriker, der einen zum lachen bringt ohne dass mein Arzt kommen muss.“ Es ist ganz einfach zu meiner persönlichen Bestform zurück zu finden! Denn mit dem lecker leichten Genuss von „Du darfst“ bringe ich die paar Realitätswahrnehmungsblockaden zu viel, ganz schnell zum Schmelzen.

Der Augenblick im Kiosk zieht sich dahin wie die Szene aus MatriX, als Neo den Kugeln von Mr. Smith ausweicht. Also wie mein Besuch im real,- an dem ich neulich mehr oder weniger zufällig vorbei gekommen bin, beim Kauf einer Palette mit 16 Gläsern Nutella, das Glas für € 1,11 an der Kasse als ich jedes Glas, wegen dem Hinweis „Verkauf nur in haushaltstypischen Mengen“ einzeln fein mit Warenntrennstöckchen längs zur Laufbandrichtung gelegt und auch so einzeln jeweils mit meiner EC-Karte bezahlte. 

Operator, ich brauche einen Ausgang. 

„Und du bist Brad Pitt, oder was?“ Paul holt zum Schlag unter der Gürtellinie aus. Gegen dieses Niveau habe ich kein adäquates Gegenmittel schaue zu Jasmijn rüber, die sich dieses mal ein solidarisches Grinsen verkneift. „Paul, ich frage mich gerade wie lange wir uns schon kennen?“ Paul kam damals eine Woche nach mir ins betreute Wohnen und nach seiner Begrüßung „Mein Name ist Butchereit, Paul Butchereit und ich habe Stil, ich habe zwanzig Zentimeter Stil!“ wurde er gleich um es mal so ganz einfach auszudrücken von den meisten Frauen hier ignoriert.

„Was meinst du jetzt damit?“ Paul ist was das betrifft ein Merkbefreiter, der es nicht peilt, dass Frauen auf die berühmten inneren Werte stehen und nicht auf seinen Stil. „Ich versuche seit dem wir uns kennen an deinen Stil heran zu reichen…“ weiter kam ich nicht Jasmijn hakt jetzt urplötzlich in unseren Machodialog ein.

„Eben, ihr habt beide nun mal keinen Stil, dieses ewige Alphatierchengehabe hier bei mir jeden morgen nervt mich so gewaltig. Wie die Jungs im Fitness-Studio beim Vergleichen der Gewichte beim Bankdrücken. cht billig.“ Ich muss mal kurz rotwerden. Ich suche nach dem Frotteehandtuch, eins mit Bayern München Aufnäher oder so, um es um den Kopf kreisen zu lassen und die Mücken oder Fliegen, was da so gerade um den Kopf so wirbelt praktisch zu vertreiben.

Natürlich gibt es im Kiosk hier diese nicht. Ich ergreife die Initiative. „Trotzdem aber sind ja praktisch wir grundsätzlich alle Jungs also mit der, um darauf zurückzukommen, hormonellen Sache konfrontiert also diesem Gegenstand, das Material das Gegenständliche, das merkt man ja im Alltag also hier echt wieder.“ Wie Scheiße klang das denn gerade? Ich blicke hilfesuchend zu Paul und erwarte die Solidarität des Geschlechtsgenossen. Paul schaut aus dem Fenster.

Nächster Ansatz „Um das noch einmal genauer. Man als wir Männer gehen so die Straße lang, oder so hier so in den Kiosk, mittelgroßmäßig halt, mit der Wirkung man sieht ein hübsches Mädchen mit dunklen, wirren Haaren und denkt. AHA! eine Schlampe“ Kurzer Blick in Jasmijns Augen. Alles klar endgültiger Knock-Out. Ich habe mich neulich mal mit einer Frau unterhalten, ein durchaus fruchtbarer Diskurs, die fand meine Überlegungen zum hormonellen Ungleichgewicht nachts um 0.30 Uhr grundsätzlich nicht schlecht nur viel zu überraschend weil sie schon geschlafen hatte.

„Sie ist eine Zicke! Sie ist eine Zicke! Sie ist eine Zicke!“ Ich gehe dann mal einfach durch die Tür ins Freie. Keine Schilder. Keine weitere Formelaufsagung. Einfach nur in meine Welt zurück, da kennt man mich und ich kenne mich dort aus.

Es gibt Ereignisse, da muss man während des Geschehens alle paar Sekunden lachen, fühlt sich ganzheitlich pudelwohl und hat das freudige Gefühl doch nach kurzer Zeit völlig im Unterbewußtsein abgelegt. Was kein generelles Problem sein muss, sondern vielmehr eine Art Verarbeitungsmechanismus um auf dem Teppich, egal welche Farbe er hat, zu bleiben. Mit selbstmanipulierenden Formelaufsagungen angereichert kreisen diese Gedanken gerne in meinem Kopf. Bockmist.

Die soeben erlebte Begebenheit im Kiosk hatte irgendwie auch gar nichts mit dieser Existenz der Glückseligkeit zu tun. Dieses Ereignis passt prima in die Reihe „Die 10 dümmsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte“ Ich sehe die burschikose Sonja Zietlow hämisch grinsend in einem Lackkostüm über mir eine Peitsche schwingen, wie sie dominant sagt „Der Schwächste fliegt und das bist du Alfred!“ In der Hoffnung das hier gleich ein als Dirk Bach schlecht verkleideter Kai Pflaume in buntem Tarnhemd in schrillen Farben auftaucht und ruft „Herzlich willkommen in der Versteckten Kamera“ und der Zietlow eins auf ihr hämisches Grinsen gibt. 

Ich bin ein Star – holt mich hier raus! 

Zum Glück gibt es ja Betreuer, also um genau zu sein behandelnde Bezugstherapeuten. Die mit allen Beziehungswassern gewaschen sind und immer ein “Das ist der Plan“ parat haben mit denen ich mein Leben aushalte. Dummerweise ist das nächste „Das ist der Plan“-Gespräch erst in einer Woche. Das Ende meiner harmonischen Beziehung zu Jasmijn, der süßen Kaffee- und Backwarenverkäuferin ist nahe. Ich spüre, dass meine ureigene Verlustangst mich zu einer Zwangshandlung treibt.

Ich will ihr eine Nachricht übermitteln – per SMS. „Jasmijn“, setze ich an, und zum ersten Mal gerate ich beim Tippen einer Nachricht an sie ins Stocken. „Liebe Jasmijn?“ Eigentlich passt diese Anrede so überhaupt gar nicht zu dem, was ich sonst so zu ihr zu sagen hatte. Die Taste mit dem „C“ lange gedrückt und neu begonnen. Ich stelle mich heldenhaft dem Kampf mit den Worten und dem Ringen nach Formulierungen. Das Nokia 6110 liegt mir nun wie eine fremdartige Waffe schwer in der Hand, die große Anstrengung beim Verfassen von sinn- aber nicht folgelosen Texten macht.

Die SMS liest sich dann so wie flüssige Butter, die durch die Finger gleitet. Dabei reiht sich ein Wort an das nächste, dessen Lesen in einer katastrophalen Spirale nach unten rutscht. Wer hat schon eine Midlife-Crisis mit Zweiundvierzig wenn er im betreuten Wohnen untergebracht ist? Durchgeschüttelt von jeder Menge Selbstzweifel und diese dann in Alkohol einlegt und konserviert. So komme ich mir gerade vor.

Aufgrund der fortschreitenden Wandlung vom Wortfetischisten zum Sprachlooser sorge ich mich wie nach dem Besuch im Knusperhäuschen in Bielefeld, als ich mir eingestehen musste, dass dominante Frauen meine Erektion und die Freundschaft zu meinem „besten Freund“ schnell bröckeln ließen.

Zu guter Letzt verlor ich nach diesem Erlebnis die Zuversicht ein echter Held zu sein, der sein Leben im Griff hat und dann mit einer vollständigen Isolation von der Außenwelt, indem ich mich 17 Stunden in mein Auto auf dem E-Center Parkplatz eingeschlossen habe auch meinen Job als Verkäufer von Obst und Gemüse auf dem Wochenmarkt verlor und anschließend noch von meiner Freundin verlassen wurde.

Das war das Ende meiner bürgerlichen Existenz und auch der Anfang des unglaublich echten und ehrichen „BEWO-Lebens“ mit sinnvollen Tagesbeschäftigungen und leichter Abendunterhaltung in den Untiefen des Dorfes mit dem Günnekamp in Ostwestfalen. Hier wird das wahre Leben reproduziert – so die These des Gründers Pastor Wehrmanns.

Der Bewohner die sich zum größten Teil bedenkenlos ihr Gleichgewicht durch Formelaufsagungen besorgen. Bei mir zieht dieses Programm nicht, weil mein Schwerpunkt auf einer emotionalen Heterogenität liegt. Ich, der ich gleichermaßen ein Blockwart und ein Anarchist bin, definiere mich nicht über einen bestimmten Trend. Vielmehr definiere ich meinen eigenen Trend. Alfredesk. Wer mit mir zusammenwohnt, das wird jeden sehr schnell klar, dem wird nicht langweilig. Und so wandele ich Tag für Tag von einem grotesken, oft wunderbar komischen Kriegsschauplatz in den nächsten.

Willst Du mehr erfahren? Dann buche den Geschichtenerzähler.

DAS SKURRILE THERAPEUTEN-DUELL AM GÜNNEKAMP