Ein Montag im Sommer 2024 – 18:17 Uhr
Es regnet nicht.
Die Sonne stand bereits tiefer am Himmel über dem betreuten Wohnen am Günnekamp, als Alfred Schmadding beschloss, seiner „alten Freundin“ aka Frau Lindener, der Heilpraktikerin mit Psychotherapie-Jodeldiplom, einen Besuch abzustatten. Frau Lindener war bekannt für ihre eigenwilligen Methoden und ihre oft fragwürdige Eignung als Therapeutin. Alfred hingegen sah sich als Meister der Selbsterkenntnis und Amateurpsychologe, der keinen professionellen Rat brauchte – oder so dachte er zumindest.
Im Gemeinschaftsraum, der nach einer Mischung aus Desinfektionsmittel und alten Büchern roch, saß Frau Lindener an einem großen Eichentisch, umgeben von Stapeln psychologischer Fachliteratur. Ihre Brille balancierte auf der Nasenspitze, als sie Alfred mit einem halbherzigen Lächeln begrüßte.
„Ach, Alfred, wie schön, dass du vorbeischaust! Setz dich doch“, sagte sie und wies auf einen Stuhl neben sich.
„Frau Lindener“, begann Alfred, während er sich setzte, „ich habe das Gefühl, dass wir hier ein fundamentales Problem besprechen müssen. Die Kommunikation zwischen Mann und Frau scheint ein unüberwindbarer Berg zu sein.“
Frau Lindener nickte ernst und zog ihren Notizblock hervor. „Das ist ein weitverbreitetes Thema, Alfred. Was denkst du, sind die Hauptprobleme?“
„Nun“, fuhr Alfred fort, „es geht nicht nur um Kommunikation. Es geht um die Abgrenzung und die Problematik der Autorität. Wer ist hier wirklich der Therapeut? Wer braucht die Behandlung?“
Frau Lindener schaute ihn verwirrt an. „Wie meinst du das?“
„Lassen Sie mich das verdeutlichen“, sagte Alfred und lehnte sich zurück. „Sie haben ständig Klienten, die sich bei Ihnen melden, weil sie angeblich Probleme haben. Aber wer kümmert sich um Ihre Autoritätsprobleme und Ihre Schwierigkeit, klare Grenzen zu setzen? Es scheint, als wären Sie selbst in einem emotionalen Dilemma gefangen.“
Frau Lindener zog die Augenbrauen hoch. „Das ist eine interessante Ansicht, Alfred. Aber ich bin hier, um zu helfen, nicht um Hilfe zu suchen.“
„Genau das ist das Problem“, konterte Alfred. „Sie betrachten sich als die Autorität, aber in Wirklichkeit sind Sie genauso hilflos wie Ihre Klienten. Diese Ambivalenz führt zu einem erheblichen Autonomieproblem. Sie versuchen, anderen zu helfen, aber haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass Sie selbst vielleicht die Hilfe brauchen?“
Frau Lindener starrte Alfred an, als wäre er ein besonders schwieriges Rätsel, das sie lösen musste. „Das ist eine mutige Behauptung. Aber wie genau sehen Sie Ihre Rolle in diesem Szenario? Sind Sie der Therapeut?“
Alfred lachte leise. „Oh, ich bin nur ein Beobachter, Frau Lindener. Ein Beobachter, der die Ironie sieht. Sie helfen anderen, während Sie selbst auf wackeligem Boden stehen. Vielleicht sollten wir uns beide therapieren – ein gegenseitiges Arrangement.“
Frau Lindener schüttelte den Kopf, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. „Vielleicht haben Sie recht, Alfred. Vielleicht brauchen wir alle ein bisschen Hilfe, selbst die Therapeuten.“
„Genau“, sagte Alfred. „Denn am Ende des Tages sind wir alle nur Menschen, die versuchen, durch diese verrückte Welt zu navigieren. Also, wie wäre es mit einem kleinen Gedankenaustausch? Sie erzählen mir von Ihren Problemen, und ich erzähle Ihnen von meinen – und vielleicht kommen wir beide ein Stück weiter.“
Frau Lindener nickte nachdenklich. „Einverstanden. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, dabei nicht immer der klügere von uns beiden zu sein.“
Alfred grinste. „Das kann ich nicht versprechen, aber ich werde es versuchen.“
Und so begann eine der skurrilsten Therapiesitzungen, die das betreute Wohnen am Günnekamp je gesehen hatte. Alfred und Frau Lindener, beide Therapeuten und Patienten zugleich, fanden in ihrer gemeinsamen Verwirrung ein Stück Klarheit. Manchmal, so stellten sie fest, liegt die beste Therapie in der Fähigkeit, über sich selbst zu lachen – und über die vielen Absurditäten des Lebens.
Frau Lindener lehnte sich zurück, ihre Brille leicht schief auf der Nase, während sie Alfreds letzte Worte verdaute. „Also gut, Alfred. Wenn wir schon dabei sind, über skurrile und absurde Themen zu sprechen, was hältst du von den neuesten Entwicklungen beim Fußball? Insbesondere den VAR-Entscheidungen, die einen Torpfiff des Schiedsrichters rückgängig machen?“
Alfreds Augen leuchteten auf. „Ach, der VAR! Ein Paradebeispiel für den Cremaster-Reflex in der modernen Welt.“ Frau Lindener sah ihn skeptisch an. „Der Cremaster-Reflex? Du meinst den Muskelreflex, der den Hoden hebt? Was hat das mit Fußball zu tun?“
Alfred grinste breit. „Lassen Sie mich das erklären. Der Cremaster-Reflex ist eine unwillkürliche Reaktion auf äußere Reize. Genau wie ein Schiedsrichter, der eine Entscheidung trifft, basierend auf dem, was er in Echtzeit sieht. Doch dann kommt der VAR ins Spiel, eine externe Kontrolle, die diese Entscheidung überprüft und möglicherweise revidiert.“
Frau Lindener nickte langsam. „Interessant. Also vergleichst du den VAR mit einem äußeren Reiz, der eine ursprünglich natürliche Reaktion verändert.“ „Genau“, sagte Alfred. „Der Schiedsrichter trifft eine spontane Entscheidung, ähnlich wie der Cremaster-Reflex auf einen plötzlichen Temperaturunterschied reagiert. Aber dann kommt der VAR, diese technologische Überwachungsinstanz, und sagt: ‚Moment mal, das war vielleicht falsch. Lass uns das nochmal überprüfen.“
Frau Lindener lachte. „Das ist eine wirklich skurrile Analogie, Alfred. Aber ich verstehe deinen Punkt. Es geht um die Unterbrechung und Kontrolle natürlicher Reaktionen durch externe Einflüsse.“
„Ja“, sagte Alfred begeistert. „Und das führt zu einem Interessenkonflikt. Der Schiedsrichter fühlt sich in seiner Autorität untergraben, ähnlich wie der Körper auf den Cremaster-Reflex reagiert. Manchmal zieht der Körper sich zurück, manchmal bleibt er standhaft. Ebenso fühlt sich der Schiedsrichter manchmal bestätigt, manchmal verunsichert.“
Frau Lindener schüttelte lachend den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass wir den Cremaster-Reflex mit Fußball in Verbindung bringen würden. Aber es macht Sinn, wenn man darüber nachdenkt. Die Frage der Autorität und der Kontrolle über natürliche Reaktionen.“
„Genau“, sagte Alfred. „Und das gilt auch für unser Gespräch. Sie als Therapeutin und ich als selbsternannter Amateurpsychologe – wir beide müssen unsere natürlichen Reaktionen auf externe Einflüsse überprüfen und manchmal sogar korrigieren.“
Frau Lindener lächelte. „Vielleicht sollten wir den VAR in unsere Therapiesitzungen einführen. Jemanden, der unsere Gespräche überprüft und uns sagt, ob wir auf dem richtigen Weg sind.“
Alfred lachte. „Das wäre mal was. Ein VAR für die Psychotherapie. Aber bis dahin müssen wir wohl selbst die Kontrolle übernehmen.“
„Stimmt“, sagte Frau Lindener. „Und vielleicht lernen wir dabei, unsere eigenen Reflexe und Reaktionen besser zu verstehen – sowohl die körperlichen als auch die psychischen.“
„Genau“, stimmte Alfred zu. „Denn am Ende des Tages sind wir alle nur Menschen, die versuchen, in einer komplexen Welt zurechtzukommen. Und manchmal hilft es, die Dinge aus einer neuen Perspektive zu betrachten – sei es der Cremaster-Reflex oder der VAR.“
Frau Lindener nickte. „Gut gesagt, Alfred. Gut gesagt.“
Zum nächsten Kapitel den Drachen drücken!